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Mit einem Stückchen Brot nach Konstantinopel

Torsten Thees

Tausende und Abertausende Menschen haben im Laufe der Jahrhunderte über Cuxhaven das Land betreten oder haben es über Cuxhaven verlassen, so dass unsere Stadt für sie zur ersten oder eben zur letzten Station wurde. Darunter waren natürlich etliche bedeutende Persönlichkeiten, deren Namen uns heute noch geläufig sind. Heinrich Heine, Jenny Lind oder auch Joachim Ringelnatz haben sich sogar eine Weile hier aufgehalten. Andere, wie Friedrich Engels, Joseph Beuys oder George Grosz, haben Cuxhaven nur als Durchgangsstation benutzt.
Eine weitere Berühmtheit, die seinerzeit ganz Europa außer Rand und Band brachte, ist allerdings nahezu in Vergessenheit geraten, obwohl sie eine über alle Maßen erstaunliche Lebensgeschichte zu erzählen hat: Die Rede ist von Mensen Ernst, dem vielleicht größten Sportler aller Zeiten.

 

 

  • Mensen Ernst, 1795 - 1843

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    Mons Monsen Oyri – sein eigentlicher Name – wurde 1795 im norwegischen Ort Fresvik geboren und wuchs in eher kleinen Verhältnissen auf. Als junger Mann ging er von Bergen aus zur See und brachte es in fünf Jahren auf englischen Schiffen bis zum Steuermann, bevor er 1818 der Seefahrt den Rücken kehrte und in London als ein sogenannter Kurierläufer in die Dienste des Herzogs von Queensbury trat. Schon bald entdeckte er sein herausragendes Lauftalent und gab die ersten „Produktionen“ oder „Promenaden“, Schauläufe vor Publikum. Seinen ersten größeren und aufsehenerregenden Lauf veranstaltete er im Frühjahr 1819, als er die 116 Kilometer zwischen London und Portsmouth innerhalb von nur neun Stunden zurücklegte.
    Obwohl er von nun an quasi alles „in Grund und Boden“ rannte, auch wohl gegen Hunde und Pferde antrat und gewann, sollten seine unglaublichsten und seitdem nie wieder erreichten Leistungen erst viele Jahre später folgen.

     

    Zunächst einmal reiste er 1820 nach Cuxhaven, weil ihm die englische Insel für seine Unternehmungen allmählich zu klein wurde. Vom kleinen Amte Ritzebüttel an der Elbmündung aus wollte er den europäischen Kontinent erobern und wandte sich über Hamburg ins Landesinnere. Im Laufe der Jahre gab er in mehreren deutschen Städten seine Produktionen, darunter Kiel, Schleswig, Flensburg und hatte nun auch durchaus beträchtliche Einnahmen. In Kopenhagen beispielsweise nahm er rund 1600 Reichstaler ein und selbst der König spendierte 100 Reichstaler, als es ihm gelang, ein Rennen von 13 Runden à 900 Schritten auf dem achteckigen Schlossplatz in nur 21 Minuten zu beenden.
    Zu dieser Zeit war Mensen Ernst außer in Deutschland auch schon in Italien und Spanien gelaufen und seine Auftritte hatten das Ausmaß regelrechter Spektakel angenommen, die Zuschauermassen feierten ihn überschwänglich und in Fürsten- wie Königshäusern wurde er gern gesehener Gast.

     

     

     


    Noch im selben Jahr, 1826, war Mensen Ernst zum ersten Mal in Paris, verdiente an einem einzigen Tag 1500 Francs, verbrachte drei Wochen in vornehmen Hotels wie ein Fürst und zog dann weiter in die nächste Stadt zum nächsten Lauf. Unzählige Städte in über 70 Ländern sahen ihn auf diese Weise in seinem merkwürdigen Rennanzug mit dem eigenartigen federgeschmückten Hut. Seine Zeitgenossen beschrieben ihn hinsichtlich seines Körperbaues und seiner Gesichtszüge als typischen Skandinavier. Das „Morgenblatt für gebildete Leser“ wusste über ihn zu berichten: „Er ist einfach in seinem ganzen Wesen, in Kleidung und Nahrung. Auf seinen langen Reisen, auf ungebahnten Wegen hat er unter anderem Notdürftigen in seinem kleinen Ranzen: eine Landkarte, einen Compass, ein Thermometer und ein Hodometer, um damit den durchlaufenen Raum zu messen.“ Tatsächlich schlief er lieber auf einem harten Lager als in einem weichen Bett und bevorzugte einfache Nahrung, bei Getränken hingegen war er nachgiebiger. Ein Lexikon seiner Zeit fasste seine Schlichtheit und sein unglaubliches Laufvermögen recht treffend zusammen: Mensen Ernst „lief mit einem Stückchen Brot in der Tasche nach Constantinopel“.

     

  • Der Blick auf Cuxhaven ist vor 1837 entstanden. So mag sich also Cuxhaven dem von England kommenden Mensen Ernst präsentiert haben.
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    1832, Ernst war jetzt 37 Jahre alt, war er wieder in Paris und startete von dort aus zu seinem spektakulärsten Lauf. Mit Hilfe seines Mentors, des schwedisch-norwegischen Botschafters in Paris Graf Löwenhielm bereitete Ernst ein äußerst gewagtes Rennen vor, wälzte Landkarten und legte Routen fest. Paris stand Kopf als das Vorhaben öffentlich wurde: Gewiss auch in Anspielung an Napoleon Bonaparte wollte Mensen Ernst eine über 2500 km (Luftlinie) lange Strecke von Paris nach Moskau laufen und dafür lediglich 15 Tage benötigen, das wären Tag für Tag etwa 180 Kilometer, die er zu laufen hätte.
    Nachdem er am Abend zuvor noch dem Wein zugesprochen hatte, brach er am 11. Juni 1832 morgens um 4 Uhr auf. Ganz offensichtlich war er in fantastischer Form, denn nach nur zwei Tagen erreichte er das rund 450 Kilometer entfernte Kaiserslautern. Sein Weg auf Straßen, durch Wälder und Sumpfgebiete, auf dem er es mit Räubern ebenso wie mit Wölfen zu tun bekam, führte ihn weiter durch Chemnitz und Krakau, bei Chelm überschritt er die russische Grenze und kam über Smolensk nach Borodino. Hier, wo Napoleon einen Sieg über die Russen errungen hatte, zeigte sich auch Mensen Ernst siegessicher, allzu sicher. In einem Wirtshaus wollte er sich eine Flasche Rum bestellen, aber er war dem Wirt nicht recht geheuer, wohl wegen seiner merkwürdigen Aufmachung und seiner gestenreichen Zeichensprache. Schon bald holte der Wirt die Polizei und Ernst fand sich alsbald in einem Gefängnis wieder. Zu seinem Glück hatte seine Zelle einen Kamin, über dessen Schornstein Ernst entkommen konnte. Sein Ausbruch war natürlich bemerkt worden, aber wer wollte den schnellsten Mann der Welt einholen?
    Nach zahlreichen Gefahren und Abenteuern erreichte er schließlich am 25. Juni immerhin gesund und munter sein Ziel – aber niemand in Moskau wollte ihm rechte Beachtung schenken. Er hatte die Strecke in 14 Tagen, fünf Stunden und 50 Minuten zurückgelegt und war einfach einen Tag zu früh dran, niemand rechnete mit ihm. Erst als sich seine Ankunft herumsprach, kannte der Jubel keine Grenzen mehr. Fürst folgte auf Fürst und Fest auf Fest, ja, er stellte seine Laufkunst sogar dem Zaren unter Beweis. Natürlich war Ernst nun ein gemachter Mann, allein aus Paris standen ihm 4000 Francs für den Lauf zu.
    Nur wenig später, noch 1832, rannte der „größte Läufer aller Zeiten“ im Auftrag des bayerischen Königs, der kurz zuvor auch zum König Griechenlands gekrönt worden war, von München aus in die damalige griechische Hauptstadt Nauplia – und erreichte den Ort auf dem Peloponnes in nur 24 Tagen.

     

  • Östlicher Mittelmeerraum - Mehrfach ist Ernst hier gelaufen, in Ägypten fand er schließlich den Tod.
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    Vier Jahre später unternahm das norwegische Laufwunder seine wohl größte „Promenade“. In Tagesetappen von etwa 150 Kilometern lief er in 59 Tagen von Konstantinopel nach Kalkutta und zurück, insgesamt rund 8300 Kilometer, wobei er für den Rückweg, wie sonst auch immer, eine andere Strecke wählte: „zurück aber über Kabul und durch die westliche Tartarei. Als er in der Nähe des Himalaia war, stand er einen Augenblick still, denn es wandelte ihn die Lust an, durch die östliche Tartarei nach China zu gehen. Er wandte sich dann aber doch wieder nach links und ging längs dem Kaspischen Meer nach Haus. Nächstens will er aber eine Promenade nach China unternehmen.“ berichtete das Morgenblatt 1839 seinen gebildeten Lesern.
    Um derlei vollbringen zu können, musste die Natur Mensen Ernst natürlich mit einer unverwüstlichen Konstitution und einer geradezu überreichen Kondition ausgestattet haben, Voraussetzung war natürlich auch eine äußerst robuste Gesundheit und zweifellos kam er auch mit sehr wenig Schlaf aus, dennoch bleiben seine Leistungen auch vor diesem Hintergrund schier unglaublich. Rätselhaft, wenn nicht geheimnisvoll bleibt auch, wie Mensen Ernst es immer wieder fertiggebracht hat, diese Leistungen in einer zum Teil sogar feindlichen Umwelt zu vollbringen. Weder Flüsse, die er überwinden musste, noch Wüsten, die es zu durchqueren galt, konnten ihn aus dem buchstäblichen „Tritt“ bringen. Berge, Sümpfe, wilde Tiere, Räuber, nichts konnte ihn aufhalten.
    Andererseits, wie sollte ihm ein Schwindel möglich gewesen sein, hat doch ganz Europa seine Läufe beobachtet?

     

     

     

     

     

     

    Um 1840 trat Ernst in die Dienste des preußischen Fürsten Pückler-Muskau, der schon aufgrund seines Lebensstils einen legendären Ruf genoss. Wohl auch, weil er eine Art früher Globetrotter war, umgab er sich gern mit ungewöhnlichen Menschen, so dass die Aufnahme Ernsts als Kurierläufer nicht verwunderte. Der Fürst war es übrigens auch, der, Ernsts Laufkunst vor Augen, den Begriff ‚Sport’ eingeführt hat, so dass Mensen Ernst, wenn nicht sowieso als größter, so doch ganz sicher als erster Sportler bezeichnet werden kann.
    Es steht nicht ganz fest, ob Pückler- Muskau ihm tatsächlich den Auftrag gab, er solle zu den (bis dahin noch unbekannten) Quellen des Nils laufen, oder ob Ernst selbst einen derartigen Entschluss fasste, nachdem er den Fürsten wieder verlassen hatte, jedenfalls lief er 1842 von Muskau aus in gewohnter Schnelligkeit über Konstantinopel und Jerusalem nach Kairo. Irgendwo in Ägypten erwischte ihn im Januar 1823 schließlich die Ruhr, deren Behandlung er aber wohl nicht genügend Aufmerksamkeit widmete. Er lief weiter und verstarb etwa 1000 Kilometer im Landesinnern im ägyptischen Syene – schließlich hatte er gegen seinen eigenen Körper verloren. Sein Begräbnis fand an Ort und Stelle statt, ein Grabstein zu seinem Gedenken dürfte sich irgendwo auf dem Grund des Assuan-Stausees befinden.
    Mindestens so ungewöhnlich und im wahrsten Sinne merkwürdig, wie sein schillerndes Leben und seine nie wieder erreichten Leistungen ist die Tatsache, dass Mensen Ernst in Vergessenheit geraten konnte und noch nicht einmal in seinem Heimatland Norwegen sonderlich berühmt ist. Selbst eine von dem Schriftsteller Gustav Rieck verfasste, auf Ernsts persönlichen Erzählungen beruhende komplexe Biografie ist vergessen und heute wohl auch nur noch in zwei Exemplaren erhalten. Neuerdings hat immerhin Marc Buhl das Leben Mensen Ernsts – literarisch frei – in dem Buch „Rashida oder Der Lauf zu den Quellen des Nils“ nacherzählt.
    So ist Mensen Ernst auch in Cuxhaven vergessen: Das im Stadtarchiv Cuxhaven aufbewahrte „Protokollbuch über die angekommenen Fremden und deren weiteren Reiseziele“, das von der Ritzebüttler Behörde akribisch geführt wurde und für das Jahr 1820 exakt 750 Namen enthält, weist keinen Mensen Ernst aus. Vermutlich war er für die hiesigen Behörden einfach zu schnell.